Spaniens außenpolitische Rolle aus der Sicht spanischer Politiker (1898-1914)

Magisterarbeit am Institut für Geschichtswissenschaften der HUB

vorgelegt am 17.10.2003

Einleitung

Eine Analyse der außenpolitischen Rolle Spaniens vor dem Ersten Weltkrieg ist bisher hauptsächlich aus Sicht der übrigen europäischen Staaten vorgenommen worden. Es gibt jedoch wenige historische Untersuchungen über die Rollenvorstellung der Spanier selber. Diese Arbeit versucht die Rollenvorstellungen aus der Sicht spanischer Politiker darzustellen.

Außenpolitik bezeichnet eine Politik, mit der die im Nationalstaat „organisierte Gesellschaft [ihre] Interessen gegenüber anderen Staaten“1 durchsetzt. Die Außenpolitik beinhaltet die „Aktivitäten oder Unterlassungen einer Regierung gegenüber einer anderen, die in ihrer Gesamtheit ein Beziehungsmuster konstituieren.“2 Ihre Aufgabe ist insbesondere die Pflege der diplomatischen Beziehungen, der Abschluss von Verträgen und Bündnissen und die Vertretung der Interessen einzelner Staatsbürger und Unternehmungen im Ausland. Sie wird von besonderen Organen und Diplomaten wahrgenommen.3 Zur Analyse von Außenpolitik haben sich fünf Ansätze herausgebildet, die sich gegenseitig ergänzen: der machtpolitische, der Aktions-Reaktions-, der Entscheidungsprozess, der Ziel-Mittel- und der Bedingungsstrukturansatz. „Der machtpolitische Ansatz untersucht Außenpolitik unter der Fragestellung, inwieweit diese dem Erhalt, dem Ausbau und der Absicherung von Machtpositionen dient. Regionale und internationale Macht dient dabei den jeweiligen nationalstaatlichen Interessen und hängt von den zur Verfügung stehenden wirtschaftlichen und mitlitärischen Kapazitäten ab, die durch Allianzbildung, politische Strategie und diplomatische Taktik vergrößert werden können.“4 Für diese Arbeit ist allein der machtpolitische Ansatz maßgebend.

In der modernen Außenpolitikforschung wird die außenpolitische Rolle eines Staates durch die systemischen Rahmenbedingungen sowie die eigenen Rollenvorstellungen des Staates charakterisiert. Obwohl in dieser Arbeit gerade nicht die außenpolitische Rolle Spaniens durch eine Aussensicht dargestellt werden soll, ist es doch notwendig die Rolle Spaniens vor dem ersten Weltkrieg zunächst systemtheoretisch zu bestimmen. Denn nur durch solch eine Bestimmung können die außenpolitischen Möglichkeiten Spaniens herausgearbeitet werden. Dies wiederum ist notwendig, um einen theoretischen Rahmen für eine außenpolitische Rolle Spaniens herauszuarbeiten und anhand der Quellen überprüfen zu können, ob eine Rollendiskussion stattgefunden hat.

Im Folgenden werden zunächst die systemischen Rahmenbedingungen definiert. Die systemischen Rahmenbedingungen sind die Bedingungen, die einem Staat den Spielraum für seine Entscheidungen geben oder die Entscheidungsfreiheit einengen. Diese Rahmenbedingungen werden anhand der sogenannten Systemanalyse untersucht. Diese unterscheidet drei Idealtypen, nämlich das gemäßigte System, das revolutionäre System und das Imperialsystem.5 Die Frage ist, welches System der historischen Situation vor dem Ersten Weltkrieg am nächsten kommt.

Als gemäßigtes System wird ein sogenanntes Mächtegleichgewicht bezeichnet, „in dem sich die wichtigsten Komponenten so verhalten, dass sie ihre Ambitionen und Chancen gegenseitig im Zaum halten, ein ungefähres Gleichgewicht der Macht untereinander aufrechterhalten und die Gewaltanwendung möglichst vermeiden. Zu seinen Grundbedingungen gehört die Multipolarität (das Vorhandensein von mehr als zwei Großmächten) und eine internationale Legitimität, die zumindest bestimmte Regeln der Konkurrenz enthält und in der Ähnlichkeit der Systeme begründet ist.“6 Innerhalb des gemäßigten Systems entstehe eine Hierarchie, in der die kleineren Staaten in eine “Art kollektive Vormundschaft der Großmächte“7 geraten. Das heißt, dass die kleineren Staaten darauf angewiesen sind, sich einer größeren Macht anzuschließen, es jedoch nicht vorbestimmt ist, welcher Großmacht sie sich anschließen müssen. Die Großmächte hingegen haben es nicht nötig, bei den kleineren Staaten um Anhänger zu werben, da sie zwar untereinander durch ihre gegensätzlichen Bestrebungen gespalten seien, aber nicht in permanenter Feindschaft lebten.8 Daraus kann man ableiten, dass in einem gemäßigten System die kleineren Staaten die Möglichkeit haben, unter Ausnutzung der gegensätzlichen Bestrebungen der Großmächte, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Dafür ist es notwendig, dass sie aktiv um Partner werben.

Die Situation in Europa am Ausgang des 19. Jahrhunderts war durch mehrere Großmächte und viele kleinere Mächte gekennzeichnet, die durch ein Geflecht von Bündnisverträgen und Militärallianzen miteinander verbunden waren. Das allgemeine Streben nach Machtzuwachs und kolonialer Eroberung, ohne es zu einer militärischen Auseinandersetzung unter den Mächten kommen zu lassen, wurde gegenseitig anerkannt. Dies spricht dafür, dass die historische Situation vor dem Ersten Weltkrieg am ehesten dem gemäßigten System entspricht.

Unumstritten ist, dass Spanien am Ausgang des 19. Jahrhunderts nicht mehr zu den europäischen Großmächten gehörte. Die Frage ist jedoch, wie groß die verbliebene Macht Spaniens war und welche Stellung Spanien dadurch in diesem gemäßigten System hatte. Dafür ist es erforderlich, den Begriff kleinere Macht näher zu erläutern. Es gibt verschiedene Ansätze kleinere Mächte zu charakterisieren. Einige Autoren versuchen anhand bestimmter Kriterien wie Bevölkerungszahl, geographische Größe, Bruttosozialprodukt oder militärische Kapazitäten eine statistische Vergleichbarkeit zu erreichen.9 Andere Autoren lösen dieses Problem nicht anhand statistischer Werte, sondern auf eine eher psychologische Art, in dem sie das Attribut klein durch die Bezeichnung schwach ersetzen. Es zeigt sich also, „dass die Frage der Einstufung von Staaten eng mit dem klassischen Problem verbunden ist, anhand welcher Kriterien Macht zu messen sein könnte.“10 Niels Amstrup integriert zusätzlich die eigene Wahrnehmung eines Staates von seiner Größe in diesen Ansatz. Demnach seien jene Staaten schwach, die sich selbst als klein und einflusslos betrachten. Ein Kleinstaat wäre also ein Staat, der erkennt, dass er sich nicht selbst verteidigen kann und daher auf die Hilfe anderer Staaten vertrauen muss.11 Wird die Macht eines Staates allein anhand der oben erwähnten statistischen Kriterien gemessen, kann es dazu führen, dass ein Staat allein aufgrund seiner hohen Bevölkerungszahl als ein mächtiger Staat bezeichnet werden müsste. Dies sind auch für eine Beurteilung der Macht Spaniens in der Zeit zwischen 1898 und 1914 keine ausreichenden Kriterien. Daher ist es notwendig, die Macht eines Staates auch anhand anderer Kriterien zu messen, z.B. durch die Untersuchung der eigenen Rollenvorstellung eines Staates. Eine solche Untersuchung ist auch für die nähere Bestimmung der Macht Spaniens erforderlich.

Nach Peter Gaupp stellen die Rollenkonzepte neben den systemischen Bedingungen einen entscheidenden Faktor in der Außenpolitik eines Staates dar. „Internationale Rollen sind geplante – d.h. kollektiv normierte und individuell konzipierte – und von Repräsentanten realisierte Einstellungs- und Verhaltensmuster von Staaten [...] in internationalen Systemen.“12 Diese Definition aus der vergleichenden Außenpolitikforschung setzt ganze Staaten als Handlungsträger voraus. Es ist jedoch auch möglich auf der Mikroebene den Einfluss des Individuums bei der Suche nach einem nationalen Rollenkonzept zu untersuchen. „Außenpolitische Rollen eines Staates entspringen demnach den außenpolitischen Grundeinstellungen nationaler Führungseliten und ihrem persönlichen Rollenkonzept, d.h. der Rolle, die sie für sich selbst als Individuum im außenpolitischen Entscheidungsprozeß beanspruchen.“13

Auf der Grundlage dieser Definition versucht diese Arbeit die außenpolitischen Konzepte von ausgewählten spanischen Politikern zu untersuchen und daraus die Rolle der spanischen Außenpolitik aus deren Sicht ableiten.

Knut Kirste betont, dass außenpolitische Rollenkonzepte zugleich Elemente der Dauerhaftigkeit und der Dynamik zeigen. Sie können sich insbesondere in Phasen interner oder externer Wandlungsprozesse verändern, woraus sich häufig Spannungen oder einzelne Widersprüche ergeben.14 Die Situation Spaniens zwischen 1898 und 1914 ist durch einen Wechsel sowohl der externen als auch der internen Bedingungen gekennzeichnet. Die systemischen Rahmenbedingungen, d.h. die externen Bedingungen, ändern sich dahingehend, dass sich zu diesem Zeitpunkt das flexible Bündnissystem zwischen den Großmächten in zwei gegenüberstehende Blöcke verfestigt. Auch die internen Bedingungen ändern sich massiv. Der Verlust der letzten Kolonien im Jahr 1898 der ehemaligen Kolonialmacht Spanien im spanisch-amerikanischen Krieg stellt einen schweren Einschnitt in der spanischen Geschichte dar und wird von Zeitgenossen15 entsprechend als Desastre bezeichnet. Durch die verheerende Niederlage der spanischen Armada wird ein Prozess ausgelöst, den man am treffendsten mit nationaler Depression bezeichnen kann. Eine Depression, die insbesonder die spanischen Intellektuellen erfasst16 und nach der eine ganze Generation von Schriftstellern und Akademikern benannt wird, die Generación 98. 17 Diese beschäftigt sich mit den Ursachen und Wegen aus der Krise und der Minderwertigkeit der lateinischen gegenüber den germanischen und angelsächsischen Rassen. Als Auswege aus der Krise werden eine Rückbesinnung auf die spanischen Tugenden und eine Hinwendung zu Europa gesehen, die mit der notwendigen Modernisierung und Industrialisierung Spaniens einhergehen sollen.18 Der Einfluss dieser Bewegung auf die öffentliche Meinung ist nicht zu unterschätzen und muss bei der Untersuchung der außenpolitische Rolle nach dem Desastre von 1898 und speziell der Sicht der Politiker bei der Suche nach einer neuen außenpolitischen Rolle berücksichtigt werden.

1 Dieter Nohlen (Hrsg.): Kleines Lexikon der Politik, München, 2001, 20.

2 Ebd., 20.

3 Vgl. Bertelsmann (Hrsg.): Universallexikon, Gütersloh, 1990, 80.

4 Dieter Nohlen (Hrsg.), 21.

5 Vgl. Lehmkuhl, Ursula (Hrsg.): Historische Soziologie, Oldenbourg Verlag, München Wien, 2001, 120.

6 Lehmkuhl, Ursula (Hrsg.), 122.

7 Ebd.

8 Vgl. ebd.

9 Vgl. z.B. Barston, Ronald P.: The other Powers: Studies in the Foreign Policies of Small States, 19, nach Kortmann, Jürgen: Die Aupenpolitik westeuropäischer Kleinstaaten am Beispiel Irlands und Dänemarks, Bochum, 1994, 5.

10 Kortmann, Jürgen, 9.

11 Vgl. Amstrup, Niels: The Perennial Problem of Small States: A Survey of Research Efforts, in: CC 11/1976 (163-182), nach Kortmann, Jürgen, 10.

12 Gaupp, Peter: Staaten als Rollenträger. Die Rollentheorie als Analyse-Instrument von Außenpolitik und internationalen Beziehungen, Bern, 1983, 109.

13 Kirste, Knut, Rollentheorie und Außenpolitikanalyse (Die USA und Deutschland als Zivilmächte), Frankfurt/M., 1998, 38.

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